Sonntag, 23. Oktober 2011
Gegen Herbstdepression: Das Schwalbenbuch
Ein Freund starb in der Nacht.
Allein.
Die Gitter hielten Totenwacht.
Bald kommt der Herbst.
Es brennt, es brennt ein tiefes Weh.
Verlassenheit.

So beginnt Ernst Tollers Schwalbenbuch. Und das soll gegen Depression helfen? Yepp, nachdem Toller den Leser in ein richtig tiefes Loch geführt hat, holt er ihn mit den Schwalben himelhochjauchzend in luftige Höhen. Erzählt wird die ganze Geschichte in prosaischer Lyrik oder lyrischer Prosa, ganz wie man will. Ein Buch, wie ich es noch nie gelesen habe. Das Werk ist im Volltext online und mit ergänzenden Informationen versehen. So erfährt man die Hintergrundgeschichte zum Schwalbenbuch und einiges aus Ernst Tollers Leben, das 1939 im Exil dann leider doch von eigener Hand endete.


Dienstag, 18. Oktober 2011
Früher war alles länger: SMS-Gedichte
Ist doch wahr: Früher durfte ein Gedicht auch über mehrere Buchseiten gehen, heute passen am besten zwei Gedichte auf eine Seite. Und im Extrem: 140 Zeichen. Ende. Das geht auch, wie die Seite SMS-Gedichte beim Lyrik-Lesezeichen zeigt. Das reicht sogar für einen Sechszeiler, aber so richtig gemütlich ist das nicht. Schmökern ist was Andres.

Das scheint auch der Autor des Artikels so zu sehen, verbirgt aber seine Abneigung in einem satirischen Rahmenprogramm zu den Gedichten, das sich gewaschen hat.

Wer Lust auf Gedichtesuchen hat, kann ja mal probieren, ob er die Langversionen einiger Gedicht findet, die dort nur als vierzeiliger Ausschnitt präsentiert werden.


Donnerstag, 13. Oktober 2011
Slapstick-Gedicht
Lange nichts mehr von Ringelnatz gehört. Das folgende Gedicht könnte man sich auch gut als Stummfilm vorstellen. Der Begriff Slapstick leitet sich übrigens von einem der ältesten special effects des Theaters ab. Der slap stick oder batacchio war in der Commedia dell'arte ein Holzgerät, das bei Schlägereien auf der Bühne die Schlaggeräusche verstärkte, so wie das ihm Film ja immer noch gemacht wird. Bei Ringelnatz wird aber niemand geschlagen:

Joachim Ringelnatz - Mannheim

Schaff mir doch jemand den Schutzmann vom Hals!
Der Kerl schreitet ein.
Ich möchte doch gar nichts weiter, als
Nur laut schrein. Ganz laut schrein.
Der aber schreit: Nein,
Das dürfte nicht sein.

Was war’ nun an meinem Geschrei
Schlimmes dabei?
Wenn ich doch heute so fröhlich bin.
Dafür haben die von der Polizei
Gar keinen Sinn.

Passt auf, ihr Leute, was ich nun
Tue. Ich werde nichts Böses tun.
Wenn ich jetzt laufe,
Läuft der besäbelte Mann
Wie wild hinterher.
Aber ich laufe schneller wie der.
Und werde schrein, was ich nur schreien kann.

Was wissen die Polizein
Vom redlichen Fröhlichsein.

Am Südpol darf jeder Seelöwe schrein
So laut wie er will. -

Schon gut, ich bin ja schon still.


Freitag, 7. Oktober 2011
Spaß zum Wochenende
Ein bisschen Spaß zum Wochenende kann man ob der Wetteraussichten brauchen. Dafür empfehle ich eine Spielerei, die irgendwie auch mit Lyrik zu tun hat: Das Weisheitszahnorakel. Wer seinen Vornamen und sein Geburtsdatum eingibt, erhält einen Dreizeiler serviert, der orakelig darüber Auskunft gibt, wie der Tag wird. Orakelig heißt: verschlüsselt in einem Bild. Heute z.B. bekam ich "ein erster fetter Tropfen / platscht! / in den Straßenstaub", was keine Wettervorhersage sein soll, sondern eben ein Ereignis ankündigt. Man kann auch Deutungsversuche für den jeweiligen Spruch abrufen, hier denke ich ist "Was zu anderen Zeiten unangenehm, ist heute eine willkommene Abwechslung" möglicherweise passend. Der Tag ist ja noch jung. Insgesamt eine nette tägliche Spielerei, die auf der seltsamen Haikuform beruht.


Sonntag, 2. Oktober 2011
Apropos Karten
Letztes Mal ging's ja eigentlich um Weihnachtskarten. Nicht, dass ich jemals so was verschicken würde, aber ein bisserl neugierig war ich, was es im Netz an Angeboten gibt.

Es gibt viele.

Nachdem das im Selbstversuch festgestellt wurde, die gute Nachricht. Es gibt sogar Karten mit Gedichten. Selbstredend keine langen Dinger, aber auch was Kurzes kann mal nett sein. Es sind mehr als 40 bei 'Gruß an dich', meist die alten Banausen, aber auch ein paar frische neue. Die meisten lassen sich sogar ausdrucken, muss man aber den Bereich wechseln. Wer eine freiere Auswahl bei den Bildmotiven haben will, dem werden noch Sprüche angeboten, die man neben oder unter das Bild setzen kann. Wobei Sprüche größtenteils Kurzgedichte meint.

Die Websitebetreiberin scheint ernsthaft an Gedichten interessiert zu sein. Auf der Website wird eine Lyriksammlung als Buch beworben, wo sie als Herausgeberin mitmischt und das auf den ersten Blick einen guten Eindruck macht. Dazu vielleicht beim nächsten Mal mehr.

(Übrigens: Apropos wird im Deutschen wirklich so geschrieben. Ich hab nachgeguckt, weil ich nur die französische Schreibweise im Kopf hatte, aber nicht mehr wusste wierum das Apostroph muss.)


Dienstag, 27. September 2011
Lebensretter Internet
Es ist September, oder? Gut, in den Geschäften gibt's schon Lebkuchen und anderes Weihnachtszeugs, so sind die Geschäfte. Aber es ist doch September. Dachte ich zumindest bis ich am Wochenende einen Anruf bekam.

Nach einer kurzen "Wie geht's-Phase", der ich schon anmerkte, dass sie im Prinzip nur störte, kam gleich das Thema auf's Tablett:
-Ich brauch Weihnachtsgedichte.
--Wofür brauchst du jetzt Weihnachtsgedichte?
-Mein Chef bringt mich um, wenn ich am Montag nicht ein paar Vorschläge hinlege.
--Wofür...?
-Die Weihnachtskarte. Wie lassen jedes Jahr eine eigene Weihnachtskarte drucken, extra entworfen von einem Künstler und Kollege Niklaus, der heißt wirklich so, kümmert sich um das Gedicht für die Karte.
--Ja, und?
-Kollege Niklaus ist kein Kollege mehr. Jetzt soll ich das machen. Mir fällt nichts, ich brauch Weihnachtsgedichte, sonst bringt mein Chef ...
--Ja, schon gut. Googeln?
-Hab ich, aber das ist so viel, ich find da nichts.
--Seufz.
-Könntest du nicht? Du kennst dich doch aus.
--Ja, klar. Deine E-Mail ist immer noch die gleiche?
-Ja.
--Gut, ich schick dir heut abend was.
-Das wär super, dankedankedanke.
--Ja, schon gut. Bis dann.

Im September Weihnachtsgedichte suchen - ich hoffe, es hat mich keiner beobachtet. Ging aber schnell. Google angeworfen, einfach die Nummer 1 bei Weihnachtsgedichten genommen. Knapp 300 Gedichte sortiert nach Anwendungsfällen. Für Karten, hab ich mir gedacht, passen Sprüche am besten. Bei den Weihnachtssprüchen Beliebteste anzeigen lassen. Hab einfach die ersten drei genommen und in die Mail kopiert.

Gestern abend kam dann die Antwort: Chef glücklich. Ich auch. Du bist Spitze. Bussi.

Keine Ahnung, wer Bussi ist und welches Gedicht sie genommen haben, weiß ich auch nicht, aber was ich weiß: September ist der neue November.


Donnerstag, 22. September 2011
In alter Freundschaft
Vielleicht kommt das mit dem Alter: In letzter Zeit mache ich mir verstärkt Gedanken um Freundschaft und Liebe. Was ist das eine und was das andere? Beim Stöbern in einer Sammlung von Freundschaftsgedichten fiel mir mal wieder auf, dass sich der Freundschaftsbegriff im Laufe der Jahrhunderte doch stark gewandelt hat. So ein Gedicht wie von Novalis an Adolph Selmnitz würde man heute locker als Liebesgedicht verkaufen.

Dann ergab sich noch ein merkwürdiges Fundstück: Ein Freundschaftsgedicht, das aus dem 19.Jahrhundert schien, aber von einem aktuellen Autor geschrieben war. Und nicht nur das; auf der Website des Autors Hans Retep gab's gleich eine ganze Seite mit Freundschaftsgedichten. Von harmlos witzig bis eben zu diesem einen Freundschaftsgedicht, das eine Intensität am Schluss enthält, die irgendwann im 20. Jahrhundert verloren gegangen sein muss.

Da Hans Retep großen Wert darauf legt, erst gefragt zu werden, bevor man seine Texte irgendwo veröffentlich, was ja auch sein verdammtes Recht ist, hab ich mal vorsichtig angefragt, ob ich dieses eine Gedicht hier präsentieren darf. Ich darf. Besten Dank.

Hans Retep - Bis zum Schluss

Wenn du alles verloren,
Schau dich um,
Wer zum Freund dich erkoren

Wenn dich keiner mehr kennt,
Schau dich um,
Wer dein Freund sich noch nennt

Sollt ich nicht dabei sein,
Möchtest du so frei sein,
- mich zu erschlagen

(Quelle: www.hans-retep-gedichte.de)


Samstag, 17. September 2011
Kurz ruiniert
Ab und an stoß ich im Netz auf diese seltsamen Dreizeiler: Haiku. So ganz erschließt sich mir die Faszination dieser Texte nicht, sind sie doch meist unlyrisch. Nun habe ich ein wenig tiefer gegraben und was Nettes gefunden: Wie man Haiku ruiniert. Da ist ein Haikuschreiber anscheinend nicht sehr glücklich mit dem, was unter dem Stichwort Haiku im Netz angeboten wird und lässt ganz sarkastisch die Sau raus. Und da Haiku ein internationales Phänomen ist (ursprünglich japanisch), gibt's sogar eine französische Übersetzung. Wenn also die Haikuschrieber selbst nicht mit dem zufrieden sind, was unter dem Begriff angeboten wird, dann betrachte ich mich als entschuldigt, dass ich diesem Phänomen nichts abgewinnen kann.


Dienstag, 13. September 2011
In der Kürze liegt die Liebe
Nach dem ellenlangen Liebesgedicht im letzten Beitrag wollte ich diesmal das andere Extrem bedienen: was ganz Kurzes. Und wie so oft, wenn man im Internet sich umschaut, heißt es: Vergiss es. Es gibt ganze Websites nur für kurze Liebesgedichte, was soll ich hier ein einziges rausklemmen?

Statt dessen stelle ich vor: www.kurz-liebesgedichte.de. Wie der Name vermuten lässt ein Spezialist auf dem Gebiet der Kurz-Liebesgedichte. Die Grenze für kurz wurde dabei auf großzügige 12 Zeilen gesetzt. Geordnet nach Themen wie Liebeserklärungen, Sehnsucht, aber auch Liebeskummer wird jeweils eine kleine Auswahl von meistenteils gemeinfreien Gedichten geboten. Der gute Heine hat gar noch eine Extraseite bekommen, weil hier die Auswahl anscheinend zu schwer fiel. Insgesamt sind es etwa 60 Gedichte, also auch dies in aller Kürze zu schaffen.


Samstag, 10. September 2011
Gibt's heute nicht mehr?
Gottfried August Bürger

An die Menschengesichter

Ich habe was Liebes, das hab ich zu lieb;
Was kann ich, was kann ich dafür?
D’rum sind mir die Menschengesichter nicht hold:
Doch spinn' ich ja leider nicht Seide, noch Gold,
Ich spinne nur Herzeleid mir.

Auch mich hat was Liebes im Herzen zu lieb;
Was kann es, was kann es fürs Herz?
Auch ihm sind die Menschengesichter nicht hold:
Doch spinnt es ja leider nicht Seide noch Gold,
Es spinnt sich nur Elend und Schmerz.

Wir seufzen und sehnen, wir schmachten uns nach,
Wir sehnen und seufzen uns krank.
Die Menschengesichter verargen uns das;
Sie reden, sie tun uns bald dies und bald das,
Und schmieden uns Fessel und Zwang.

Wenn ihr für die Leiden der Liebe was könnt,
Gesichter, so gönnen wir’s euch.
Wenn wir es nicht können, so irr’ es euch nicht!
Wir können, ach leider! wir können es nicht,
Nicht für das mongolische Reich!

Wir irren und quälen euch Andre ja nicht;
Wir quälen ja uns nur allein.
D’rum, Menschengesichter, wir bitten euch sehr,
D’rum lasst uns gewähren, und quält uns nicht mehr,
O lasst uns gewähren allein!

Das dränget ihr euch um die Kranken herum,
Und scheltet und schnarchet sie an?
Von Schelten und Schnarchen genesen sie nicht.
Man liebet ja Tugend, man übet ja Pflicht;
Doch keiner tut mehr als er kann.

Die Sonne, sie leuchtet; sie schattet, die Nacht;
Hinab will der Bach, nicht hinan;
Der Sommerwind trocknet; der Regen macht nass;
Das Feuer verbrennet. – Wie hindert ihr das? –
O lasst es gewähren, wie’s kann!

Es hungert den Hunger, es dürstet den Durst;
Sie sterben von Nahrung entfernt.
Naturgang wendet kein Aber und Wenn. –
O Menschengesichter, wie zwinget ihr’s denn,
Dass Liebe zu lieben verlernt?

Heutzutage sind wir ja viel toleranter. Jeder kann jeden lieben, nicht wahr? Doch bekommt der eine oder andere nicht vielleicht doch ein missbilligendes Menschengesicht, wenn er ein Paar sieht wie

ein Deutscher in mittleren Jahren und ein junge Philipinin oder
junger gut aussehender Schwarzer und etwas derbe übergewichtige Deutsche oder
einen 50-jährigen mit einer 20-jährigen oder
ein Alkoholikerpaar.

Gehen da nicht ein paar Vorurteile los und man denkt nicht an Liebe, sondern meint, diese Leute wären aus anderen Gründen zusammen oder sollten nicht zusammensein?

Toleranz ist nicht einfach, muss man stetig dran arbeiten. Wenn das Gedicht nichts Anderes mehr wert wäre als das, dann wäre es immer noch zeitgemäß.