Gibt's heute nicht mehr?
Gottfried August Bürger

An die Menschengesichter

Ich habe was Liebes, das hab ich zu lieb;
Was kann ich, was kann ich dafür?
D’rum sind mir die Menschengesichter nicht hold:
Doch spinn' ich ja leider nicht Seide, noch Gold,
Ich spinne nur Herzeleid mir.

Auch mich hat was Liebes im Herzen zu lieb;
Was kann es, was kann es fürs Herz?
Auch ihm sind die Menschengesichter nicht hold:
Doch spinnt es ja leider nicht Seide noch Gold,
Es spinnt sich nur Elend und Schmerz.

Wir seufzen und sehnen, wir schmachten uns nach,
Wir sehnen und seufzen uns krank.
Die Menschengesichter verargen uns das;
Sie reden, sie tun uns bald dies und bald das,
Und schmieden uns Fessel und Zwang.

Wenn ihr für die Leiden der Liebe was könnt,
Gesichter, so gönnen wir’s euch.
Wenn wir es nicht können, so irr’ es euch nicht!
Wir können, ach leider! wir können es nicht,
Nicht für das mongolische Reich!

Wir irren und quälen euch Andre ja nicht;
Wir quälen ja uns nur allein.
D’rum, Menschengesichter, wir bitten euch sehr,
D’rum lasst uns gewähren, und quält uns nicht mehr,
O lasst uns gewähren allein!

Das dränget ihr euch um die Kranken herum,
Und scheltet und schnarchet sie an?
Von Schelten und Schnarchen genesen sie nicht.
Man liebet ja Tugend, man übet ja Pflicht;
Doch keiner tut mehr als er kann.

Die Sonne, sie leuchtet; sie schattet, die Nacht;
Hinab will der Bach, nicht hinan;
Der Sommerwind trocknet; der Regen macht nass;
Das Feuer verbrennet. – Wie hindert ihr das? –
O lasst es gewähren, wie’s kann!

Es hungert den Hunger, es dürstet den Durst;
Sie sterben von Nahrung entfernt.
Naturgang wendet kein Aber und Wenn. –
O Menschengesichter, wie zwinget ihr’s denn,
Dass Liebe zu lieben verlernt?

Heutzutage sind wir ja viel toleranter. Jeder kann jeden lieben, nicht wahr? Doch bekommt der eine oder andere nicht vielleicht doch ein missbilligendes Menschengesicht, wenn er ein Paar sieht wie

ein Deutscher in mittleren Jahren und ein junge Philipinin oder
junger gut aussehender Schwarzer und etwas derbe übergewichtige Deutsche oder
einen 50-jährigen mit einer 20-jährigen oder
ein Alkoholikerpaar.

Gehen da nicht ein paar Vorurteile los und man denkt nicht an Liebe, sondern meint, diese Leute wären aus anderen Gründen zusammen oder sollten nicht zusammensein?

Toleranz ist nicht einfach, muss man stetig dran arbeiten. Wenn das Gedicht nichts Anderes mehr wert wäre als das, dann wäre es immer noch zeitgemäß.